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„Liber musicus" enthält auf 8 Blättern in 4., mit Noten, ohne Verfassernamen, von einer Hand des ausgehenden 13. Jahrhunderts 20 Lieder (wovon das erste incomplet), die in den meisten Handschriften dem König Thibaut zugeschrieben werden. Der Codex ist jedenfalls Fragmer.t einer grösseren Handschrift, deren Verlust zu bedauern, da einzelne Lieder von den Recensionen der übrigen Handschriften sehr abweichen.

Wir kommen zu dem letzten der in Betracht zu ziehenden Manuscripte, dem estenser Codex, der durch Mussafia, Grützmacher und Cavedoni hinlänglich bekannt ist und nur wegen seiner 61 altfranzösischen Lieder hierher gehört. Die 61 Lieder finden sich daselbst zwischen den Gedichten des Maistre Peire de Corbiac und des Peire Cardinal von fol. 217 232 und tragen die Ueberschrift: „Iste sunt canciones Francigenae." Sie sind sämmtlich dem Moniez d'Arras zugeschrieben, werden aber in den anderen Handschriften ganz verschiedenen Verfassern beigelegt, unter denen wir notiren: Gaces Brulez, Garnier d'Airches, Pierez de Molins, Rogier d'Andelis, Chrestien de Troyes, Raoul de Soissons und Hugues de Bregi. Der Text der Lieder wimmelt von italieni

sirten Formen

eine regelmässige Erscheinung bei den in Italien geschriebenen französischen Manuscripten.

Die Bibliothek des Arsenals besitzt, wie über fast alle provençalischen Chansonniers in italienischen Bibliotheken, so auch über diese in den Notices et extraits von Ste. Palaye (Poésies des troubadours MSS. H. I. K, tome VI) gute und genaue Nachweisungen.

Um schliesslich ein Wort über die von uns getroffene Anordnung der Manuscripte zu sagen, so haben wir, indem wir das berner Manuscript Nro. 389 voranstellten, ihm allerdings die erste Stelle in jeder Beziehung zuweisen wollen, die ihm billig zukommt wegen des Alters, des Reichthums und der Vorzüglichkeit seiner Recensionen und wegen seiner Unica, durch die es alle anderen Manuscripte überragt, nicht sowohl wegen ihrer Anzahl, als wegen ihrer Wichtigkeit. (Der Zahl nach übertreffen Montpellier 196 und Douce 308 die Handschrift B 389 weit.) Die Handschriften aber weiter nach einer subjectiven Abstufung ihres Werthes folgen zu lassen, wäre uns schon durch die Anordnung in Gruppen untersagt gewesen, wenn wir eine solche genaue Abstufung überhaupt für thunlich gehalten hätten. Denn gewiss ist bei Gedichtsammlungen, die immer nur gewisse Stücke gemeinsam haben, also auch nur in diesen verglichen werden können, eine solche Abstufung nach dem Werthe nicht so thunlich, als z. B. bei Handschriften, die ein

einzelnes Werk eines einzelnen Schriftstellers mit mehr oder minder Varianten wiedergeben, und es ist rein zufällig, dass eine einzelne Handschrift sich in so vielen Beziehungen vor den andern hervorhebt, als die berner. Die Werthbestimmung der Handschriften ist auch für einzelne Dichter ganz verschieden. Für einen Herausgeber des Audefroi li Bastars sind die Handschriften der ersten und dritten Gruppe, 20050 und B. 389, 844 und 12615 wichtiger als alle anderen; der Herausgeber des Gaces Brulez wird die Handschriften der zweiten Gruppe voranstellen müssen, während der Herausgeber des Adans de la Hale die Handschrift Lavallière 81 in erster Linie zu berücksichtigen haben wird. Wenn also unter den Chansonniers eine Abstufung resp. Werthbestimmung vorgenommen werden soll, so kann sie nicht, wie bei mehreren Manuscripten eines einzelnen Werks, eine absolute, sondern nur eine sehr relative sein.

Wir erwähnen noch kurz zwei Manuscripte der Werke des Gautier de Coinsy, mehr der Vollständigkeit halber, als wegen der Anzahl und des dichterischen Werths der darin enthaltenen lyrischen Stücke. Es sind dies die Manuscripte Lavallière 85, früher 2710 und 2193, früher 79982, der pariser Kaiserlichen Bibliothek.

Das Manuscript Lavallière 85, wie Nro. 845 früher dem Guyon de Sardiere zugehörig, umfasst auf 325 Blättern Pergament in gr. 4. zu zwei Columnen mit Miniatüren, Initialen und Noten (für die Chansons) von einer Hand des 14. Jahrhunderts, ziemlich alle dem Gautier de Coinsy beigelegten Mirakel und Marienlegenden, ausserdem auf fol. 157 ff. und auf f. 291 neun geistliche Lieder, von denen eins nur eine Strophe umfasst, und das andere wegen eines fehlenden Blattes unvollständig ist. Bei der geringen Anzahl von Liedern ist es auffallend, wie Amaury Duval (Hist. litt. d. 1. France, t. XIX, p. 844) von der grossen Anzahl von Liedern sprechen kann, die dieses Manuscript enthalte.

Eine Stelle bei Lebeuf (Dissert. sur l'hist. ecclésiast. de Paris, t. II, p. 122), die Am. Duval nicht verstand (es wird da gesagt, dass man die Lieder des Gautier de Coinsy denen des Thibaut an die Seite gestellt hätte), erklärt sich einfach dadurch, dass in dem zweiten Manuscript der Werke des Gautier, das Amaury Duval nicht kannte, ein unwissender Schreiber die Mirakel des Gautier überschrieben hat: „Cy comencent li chans au roy Thibaut," was der Buchbinder getreulich auf dem Rücken des Bandes wiedergegeben.

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Dieses zweite Manuscript der Werke Gautiers ist älter, als das eben erwähnte. Früher Eigenthum des Johannes Bigot, wie dessen eingeklebtes Wappen bezeugt, umfasst es auf 148 Blättern Pergament in kl. 4. die „miracula beatae Mariae" in 26 Capiteln, ein Gedicht „de miseria hominis et dubitatione mortis," 17 französische geistliche Lieder und ein lateinisches mit Noten, die aber sonderbarer Weise nicht auf vier Notenlinien geschrieben, wie sonst in Handschriften des 13. Jahrhunderts üblich, sondern zwischen zwei Linien in verschiedener Höhe gezeichnet sind. Die Lieder finden sich zerstreut zwischen den Mirakeln und Legenden des Gautier, diesen barocken Ausschreitungen des mittelalterlichen Mariencultus, die dem jüngeren Racine* und Helvetius ** so willkommenen Stoff zu Tiraden über mittelalterliche Geistesnacht gaben. Die Lieder sind in poetischer Beziehung höchst schwach und stehen weit unter den geistlichen Liedern der berner Handschrift. Elendes Wortgeklingel im Geschmack der Concettisten soll den mangelnden poetischen Schwung ersetzen, dabei sind zahlreiche Ausdrücke und Wendungen aus den Liebesliedern der berühmtesten Sänger, namentlich Thibaut's, entlehnt. Kurz es ist offenbar das Genre, das Wackernagel in seinen begleitenden Abhandlungen zu den zweiundfünfzig Liedern der berner Handschrift als geistliche Parodien bezeichnet, ja durch den Umstand, dass die soi-disant Pastourelle, die Wackernagel p. 186 mittheilt, sich in den beiden von uns erwähnten Handschriften wörtlich wiederfindet, werden wir veranlasst, zu glauben, dass Wackernagel in der neuenburger Papierhandschrift des 15. Jahrhunderts, die er benutzte, eine Abschrift der Lieder des Gautier de Coinsy vor sich hatte.

***

Beim Durchblättern der Mirakel des Gautier fiel uns auf, dass die Geschichte von der keuschen Kaiserin (De lempereri qui garda sa chastee par moult temptacions) eine sehr nahe Verwandtschaft zu der Geschichte der Repsima, der letzten in den persischen Hezaryek Ruz, aufweist. In beiden Erzählungen wird die treue

* Mémoires de l'académie des inscriptions et belles lettres, 18. Band, p. 235.

** Helvetius, de l'esprit, liv. II, chap. 19.

*** Wenn zu einer Parodie die Absicht zu parodiren gehört, so sind es keine Parodien, denn sie waren bitter ernst gemeint.

† Die tausend und ein Tag, in Frankreich durch Petis de la Croix und Loiseleur Deslongchamps, in Deutschland durch von der Hagen hinlänglich bekannt. Es ist die 987 1000. Nacht.

Gemahlin von dem Bruder des abwesenden Gemahls mit Liebesanträgen verfolgt und von dem Verschmähten verrathen, in beiden treibt sie von neuem die Rache eines verschmähten Liebhabers aus dem glücklich gefundenen Asyl, in beiden schuldigt sie schmähliche Hinterlist und der künstlich hervorgerufene Augenschein an, den Sohn ihres Wohlthäters getödtet zu haben, in beiden schenkt ihr der Vater des gemordeten Kindes grossmüthig das Leben, in beiden rettet sie schliesslich durch wunderthätige Heilkraft das Leben zahlreicher Kranken, darunter das ihres Schwagers, der sie verrathen. Wenn auch die Hezaryek Rûz in ihrer jetzigen Gestalt erst im 17. Jahrhundert von dem Dervisch Mocles zusammengestellt sind, wenn sie auch in ihrer vorliegenden Zusammensetzung einer Nachahmung der tausend und eine Nacht sind, so wird doch, da, wie bei den tausend und eine Nacht, die Zeit der Formgebung für die Zeit der Entstehung nicht massgebend ist, die Mehrzahl ihrer Stoffe in ein weit höheres Alterthum zurückreichen, vielleicht den tausend und eine Nacht nichts nachgeben, zumal Mocles selbst sagt, dass er indische Dramen und Erzählungen benutzt. Und das Wiederfinden dieses Stoffes bei einem altfranzösischen Dichter aus dem Anfange des 13. Jahrhunderts* wäre uns ein erneuter Beweis eines anderswo ** aufgestellten Satzes, dass nämlich Dichtern und Erzählern des Mittelalters eine Blumenlese orientalischer Erzählungen vorgelegen haben muss, welche wir jetzt noch in den PantschaTantra, den Hikaiat arbain sebah mamesa und anderen arabischen und indischen Werken wiederfinden, eine Blumenlese, die selbst, wie so manches andere Werk jener Zeit, im Strome der Zeiten untergegangen ist. Doch wir werden die Frage nächstens noch eingehender behandeln.

Die anderweitig zahlreich sich bietenden Annäherungen verfolgen wir nicht. ** Giovan Francesco Straparola Inauguraldissertation zur Erlangung der philos. Doctorwürde. Göttingen, 1867.

Paris.

Dr. Julius Brakelmann.

Die altfranzösische Liederhandschrift Nro. 389

der Stadtbibliothek zu Bern.

(Fonds Mouchet 8 der pariser kaiserlichen Bibliothek.)

Anmerkungen zu den Liedern I-LXV.

Vorerinnerung. Wir geben die Concordanz der MSS. in der Reihenfolge der Handschriftengruppen (vgl. Abhandlung über die Chansonniers). Die Nummern der Manuscripte der pariser kaiserlichen Bibliothek entsprechen der neuesten Anordnung und wolle man, wenn wir nicht zugleich die frühere Nummer angeben, die Abhandlung über die Chansonniers vergleichen. Die Nummern 854, 856, 1592, 1749, 12473, 12474 und 15211, die in dieser Abhandlung nicht erwähnt, aber in den Anmerkungen zuweilen zur Vergleichung herangezogen worden, sind provençalische Liederbandschriften und entsprechen den früheren Nummern (wie sie z. B. in der Vorrede zu Bartsch' Peire Vidal citirt sind) 7225, 7226, 7614, 7698, Supplément fr. 2032, Suppl. fr. 2033 und Suppl. fr. 683. Das MS. f. Lavallière 14 hat noch keine neue Nummer erhalten.

Dass wir es für zweckmässig und erforderlich gehalten haben, im Texte selbst an dem Wortlaut der berner Handschrift nichts zu ändern, haben wir bereits oben gesagt. Die Besserung der verhältnissmässig nicht zahlreichen Verderbnisse der berner Handschrift auf Grund der übrigen MSS. haben wir daher in die Anmerkungen verwiesen.

I. Aueugles muas et xours. Eins der geistlichen Lieder, die der berner Codex nur mit der Handschrift La Vallière gemeinsam hat, wo es sich auf 152r findet. Geringe Varianten, nur, gemäss der Heimath des Schreibers, gleich hier die häufige Umschreibung des im lothringischen Dialect aspirirten • und e in x.

Der dritte Vers der zweiten Strophe, den wir anfangs für verderbt hielten, wird durch die Lesart der Handschrift Lavall. 59 bestätigt. „Tout

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